Jüdische Gemeinde im 19. und 20. Jahrhundert
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts siedelten sich wieder
Juden in Judenburg an. Judenburg gehörte neben dem Zentrum Graz zu
den wenigen Provinzorten in denen sich Ende des 19. Jahrhunderts
ein eigenständiges jüdisches Leben entfalten konnte. Mit der
Errichtung eines Bethauses, eines jüdischen Friedhofes und der
Gründung des Fürsorge- und Bestattungsvereines Chewra Kadischa
(Heilige Gesellschaft) konnte innerhalb kurzer Zeit auch eine
religiöse und soziale Infrastruktur geschaffen werden.
Die Mehrzahl der Judenburger Juden kam aus Galizien, aus Ungarn
und aus Böhmen. Sie gehörten noch jener breiten Schicht der
Wanderhändler an, denen als „Hausierjuden“ und „Betteljuden“ auf
der untersten sozialen Stufe ein Betätigungsfeld zugewiesen war,
das oftmals kaum zur Existenzsicherung reichte. Nur wenigen dieser
Kleinhändler und Krämer gelang es, in gesichertere Positionen des
kleinstädtischen Wirtschafts- und des sozialen Lebens vorzurücken.
Die meisten Juden in der Stadt waren Händler und Kaufleute, wobei
der Begriff „Händler“ ein sehr breites Feld wirtschaftlicher
Tätigkeit umschreibt: Er umfasste den Krämer und Trödler, den
Klein- und Detailhandel ebenso wie den im Laufe der Zeit
arrivierten, ins kleinstädtische Bürgertum aufgestiegenen Kaufmann
und Großhändler. In Judenburg waren es die Kaufmannsfamilien
Gottlieb, Posamentier, Gruber, Zucker, Dachinger, Kiesel und
Teicher, denen es durch Fleiß und kaufmännisches Geschick gelang,
aus der Schicht der Trödler und Hausierer in den bürgerlichen
Handelsstand aufzusteigen.
Eine nicht unwesentliche Rolle spielten die Juden im sozialen
Bereich und im Vereinsleben: So waren etwa die Judenburger
Kaufleute Wilhelm Gottlieb und Karl Zucker wesentlich am Aufbau
der Feuerwehr und der Rettung der Stadt Judenburg beteiligt. Auch
in den Sportvereinen waren Juden aktiv tätig.
Im Zeitraum zwischen 1900 und 1938 nimmt die Zahl der in der
Region Aichfeld-Murboden lebenden Juden beständig ab. Der
besonders in wirtschaftlichen Krisenzeiten virulente
Alltagsantisemitismus, dessen Spuren sich in der Lokalpresse
deutlich verfolgen lassen, hat viele Juden veranlasst, in die
Großstädte, etwa nach Graz oder nach Wien, abzuwandern.
Enteignung und Vertreibung
Die Judenburger Nationalsozialisten mussten den Antisemitismus
nicht „neu erfinden“, sondern konnten auf eine lange
judenfeindliche Tradition aufbauen. Nur so ist auch der
„reibungslose“ Ablauf der so genannten Arisierungen, d.h. der
Raubzug gegen das jüdische Eigentum und die willfährige
Mittäterschaft einer beträchtlichen Anzahl von Menschen erklärbar.
Die meisten Juden wurden, sofern ihnen nicht rechtzeitig die
Ausreise gelang, systematisch beraubt, entrechtet und vertrieben.
Es war ein wohlorganisierter Raubzug, den die Nazis nach der
Machtübernahme im Frühjahr 1938 in Gang setzten. Viele Bürgerinnen
und Bürger sahen dabei zu oder schauten weg, als man ihre
jüdischen Nachbarn aus deren Wohnungen, Häusern und Geschäften
vertrieb. Viele machten mit und bereicherten sich schamlos.
Bereits in der ersten Märzhälfte 1938 hingen in den Auslagen
jüdischer Geschäfte in Judenburg Plakate mit der Aufschrift „Kauft
nicht bei Juden!“ oder „Welches arische Schwein kauft noch bei
Juden ein?“. Boykottaktionen, Verhaftungen und Gewaltandrohungen
waren weitere Mittel, um die jüdischen Geschäftsleute unter Druck
zu setzen.
Binnen kurzer Zeit schufen die Nazis ein ausgeklügeltes System der
Beraubung jüdischen Eigentums, das als „Arisierung“ bezeichnet und
verharmlost wurde. Mit der „Arisierung“ jüdischen Vermögens lösten
die Nazis zwei Probleme auf einem Schlag: Zum einen wurden mit dem
geraubten Gut „verdiente“ Parteifunktionäre „belohnt“; zum anderen
ging es dabei auch um eine Art Strukturbereinigung des
gewerblichen Mittelstandes. Denn mit den Geschäftsstilllegungen
konnte in kürzester Zeit unliebsame Konkurrenz ausgeschaltet und
damit die Wettbewerbschancen des „arischen“ Kaufmannes erheblich
verbessert werden.
„Arisiert“ wurden nicht nur jüdische Betriebe und Geschäfte.
Zerstört und geschändet wurden auch der jüdische Betraum und
Friedhof. Nichts sollte mehr an die Juden im Aichfeld erinnern.
Nicht nur ihre materielle Habe und ihre menschliche Würde, auch
ihre Erinnerung sollte ihnen weggenommen werden. Im Frühjahr 1939
war die Stadt Judenburg, wie es die Nazis zynisch nannten,
„judenrein“.
Nach 1945, nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur,
wollten die wenigsten Menschen an das Schicksal der Juden erinnert
werden. Es war auch politisch nicht opportun, an die Geschehnisse
dieser Zeit zu erinnern. Die Geschichte der Juden ist daher bis
heute eine Geschichte der Mythenbildung, der Verdrängung und des
Verschweigens.
Dr. Michael Schiestl, Stadthistoriker Judenburg